„Es ist menschlich verständlich, aber ökonomisch schädlich, wenn Entscheidungsträger auf Landesebene bundesweite Krisenregeln fordern, um sich gleichsam hinter diesen Entscheidungen zu verstecken und um damit der politischen Verantwortung zu entgehen“, sagte IfW-Forscher Jürgen Stehn anlässlich der Veröffentlichung seiner Analyse im Auftrag der Nordakademie-Stiftung („Föderalismus in der (Corona-)Krise“).
Demnach führt eine Verlagerung von Aufgaben von einer untergeordneten auf eine übergeordnete politische Ebene stets zu einer Vernachlässigung individueller Präferenzen. Da in der Corona-Krise die Präferenzen zwischen den Bundesländern mit Blick auf die Art und das Ausmaß der Pandemiebekämpfung relativ stark variierten, ist eine dezentrale Zuständigkeit der Bundesländer für den Infektionsschutz in Deutschland einer bundesweiten Zuständigkeit deutlich überlegen.
Voraussetzung ist allerdings, dass es gelingt, die Mobilität zwischen den Bundesländern durch geeignete Maßnahmen zu verringern oder sicherer zu gestalten, um eine Ausbreitung des Virus von einem Bundesland mit erfolglosen Infektionsschutzmaßnahmen auf ein Bundesland mit erfolgreichen Infektionsschutzmaßnahmen zu verhindern. Je strikter und effizienter die Mobilitätsbeschränkungen ausfallen, umso größer sind die Effizienzgewinne einer dezentralen, regionalen Pandemiebekämpfung.
„Eine dezentrale Aufgabenkompetenz in der Pandemie verspricht nicht nur Wohlfahrtsgewinne aus einer Berücksichtigung regional variierender Präferenzen, sondern auch aus einem Wettbewerb potenziell geeigneter Problemlösungen zwischen den Ländern“, sagte Stehn.
Durch unterschiedliche regionale Pandemie-Regeln lassen sich Erfolgsmodelle leichter identifizieren und imitieren. Außerdem ist es etwas weniger riskant, viele den regionalen Umständen angepasste Ausstiegsexperimente zu machen als ein einziges deutsches Großexperiment, denn Fehlentscheidungen haben aufgrund der kleineren Gebietseinheiten geringere Folgen als Fehlschläge auf Bundesebene.
Erfolgreiche Beispiele für das unterschiedliche Vorgehen der Länder ist etwa Schleswig-Holsteins stufenlose Öffnung des Tourismus im Mai 2020, die ein Muster für andere Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen war. Auch die schleswig-holsteinischen Strandampeln und Teilsperrungen von Parkplätzen zur Begrenzung des Tagestourismus wurden später in ähnlicher Weise auch in anderen Bundesländern eingeführt.
Ministerpräsidentenkonferenz unproduktiv
Stehn kritisiert außerdem die wiederholt zähen Verhandlungen der Ministerpräsidenten als unproduktiv und als falsch verstandenen Föderalismus. „Föderale Zuständigkeiten im Infektionsschutz bedeuten eben gerade nicht, dass sich sechzehn Bundesländer gemeinsam mit der Bundeskanzlerin auf gemeinsame Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung verständigen müssen. Das Gegenteil ist der Fall. In einem effizienten föderalen System sind es ausschließlich die Bundesländer, die für ihre Regionen den Präferenzen ihrer Bürger angepasste Lösungswege im Infektionsschutz erarbeiten und umsetzen.“
Stehn plädiert außerdem dafür, Wirtschaftshilfen in der Pandemie auf Länderebene zu finanzieren, um Fehlanreize für Unternehmensschließungen zu vermeiden. „Je besser es gelingt, Aufgaben- und Fiskalkompetenz in Übereinstimmung zu bringen, umso größer ist die Überlegenheit eines föderalen Systems gegenüber einer zentralisierten Ordnung“, so Stehn.
„Der föderale Weg in der Pandemiebekämpfung ist nicht einfach zu bestreiten. Föderalismus erfordert Mut von den regionalen Entscheidungsträgern. Sie müssen die Verantwortung für die Folgen von Hygieneregeln, Schließungen und Öffnungen tragen, das ist der Kern des Föderalismus.“
Zur Analyse: „Föderalismus in der (Corona-)Krise“
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