„Sozialkreditsystem in Deutschland? Chancen und Risiken“ lautet das Thema eines Symposiums des Konfuzius-Instituts Bremen im März 2021. Im Vorfeld plädiert Prof. Dr. Rainer Lisowski, Professor für Public Management an der Hochschule Bremen, für eine kritische, aber vorurteilsfreie Diskussion über das Sozialkreditsystem. Für ihn steht die Frage im Mittelpunkt: Entsteht damit ein im Prinzip innovatives System des öffentlichen Managements, das man, auf westliche Art umgeformt, auf uns übertragen könnte?

Frage: Die Corona-Krise beschäftigt auch das Öffentliche Management. Welche Veränderungen beobachten Sie?
Prof. Dr. Rainer Lisowski: Zunächst einmal greift der Staat deutlich tiefer in das Leben der Menschen ein – und das mit überwältigender Zustimmung aus der Gesellschaft. Durch die Krise hat sich das Verhältnis zwischen Staat und Bürgerschaft deutlich verschoben, zumindest für den Moment. Abstrakt gesprochen: Der Staat hat mit Duldung der Menschen Machtbefugnisse dazu gewonnen. Vor einem Jahr wäre das so schwer denkbar gewesen. Denn eigentlich waren wir gesellschaftlich auf einem anderen Weg. Seit Jahrzehnten konnte man eher beobachten, dass der Staat in ein immer feinmaschigeres Netz von Rechtsvorschriften gefasst wurde und dass der Raum des Privaten und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger immer umfassender verstanden wurden. Insofern finde ich spannend, was da zurzeit geschieht. Und es bestärkt mich darin, dass wir mit einem aktuellen Forschungsthema zum Chinesischen Sozialkreditsystem richtig liegen.

Dieses System versucht mit Big Data das Verhalten der Chinesen zu lenken. „Korrektes Verhalten“ wird mit Punkten belohnt, „falsches“ Verhalten mit Punktabzug bestraft. Der Kontostand entscheidet dann zum Beispiel darüber, ob jemand ein Zugticket kaufen darf. Das klingt drangsalierend – wieso befassen Sie sich mit dem chinesischen Sozialkreditsystem?
Zunächst einmal: Ansatzweise gibt es das im Westen auch. In den USA läuft, ohne dass Sie das mitbekommen, auch eine Prüfung, ob Sie ein Flugticket kaufen dürfen. Setzt das „Terrorist Screening Center“ Sie auf die „no-fly list“, dann wird das nichts mit dem Ticketkauf. Aber zurück zu China. In China stehen zwei Gedanken hinter dem System: Zum einen ist da der auch im Westen nicht unbekannte Gedanke, wie der Staat die Moral und das Verhalten seiner Bürgerinnen und Bürger steuern kann. Diese Frage taucht bei uns auch bei Platon oder Thomas Hobbes auf. In China wird seit der Zhou-Dynastie darüber nachgedacht, also seit gut dreitausend Jahren – nur fehlten bislang schlicht die Mittel zur Durchsetzung, die man nun durch Big Data als gegeben ansieht. Zum anderen ist da natürlich der Machtsicherungsanspruch der derzeitigen chinesischen Regierung. Was uns interessiert ist aber die Frage: Entsteht da ein im Prinzip innovatives System des öffentlichen Managements, das man, auf westliche Art umgeformt, auf uns übertragen könnte? Ich finde die Frage wichtig, denn leider sind wir oftmals wenig offen für Ideen aus Asien.

Woran machen Sie das fest?
Aus einer politisch-kulturellen Perspektive finde ich es schon bemerkenswert, dass nicht stärker darüber nachgedacht wurde, was wir im öffentlichen Management von Asien lernen können. Taiwan beispielsweise ist hervorragend durch die Covid-19-Krise gekommen, seit einem halben Jahr gibt es keine Neuinfektionen. Ein wichtiger Baustein: Die stärkere Nutzung von Handy-Apps. Unsere heilige Kuh „Datenschutz“ bietet der Politik hier null Manövriermasse. Singapur experimentiert mit Anreizabgaben, um den Autoverkehr systematisch zu verteuern und so zu reduzieren. Es gibt manche interessante Ideen, wir neigen aber dazu, asiatische Lösungsansätze per se so zu behandeln, als könnten sie uns nichts sagen. Überspitzt formuliert haben viele vermutlich die Idee im Kopf, der Durchschnittsmensch in Asien ist mit seinem Handy verwachsen und gerne Untertan. Und ich vermute, wir sind es einfach gewohnt, dass andere von uns lernen. Wir haben uns an die neue Wirklichkeit der Welt noch nicht gewöhnt.

Bei einer geplanten Tagung im März 2021 wollen Sie sich ja intensiver mit dem Sozialkreditsystem befassen. An welcher Stelle könnte der Blick auf dieses für uns denn sinnvoll sein?
Meine Vermutung ist, dass die momentan in den Hintergrund getretene Klimakrise ein Auslöser sein könnte, sich mit solchen Fragen doch intensiver zu befassen. Wir werden neben den bestehenden Instrumenten alle Ideen und Innovationen brauchen, um diese Menschheitsherausforderung stemmen zu können. Wenn ein „westliches“ Sozialkreditsystem denkbar ist und wenn es in der Anwendung nützlich wäre, dann sollte man die Idee nicht gleich aussortieren.

Was genau soll auf der Tagung diskutiert werden?
Wir möchten eine kritische, aber vorurteilsfreie Diskussion über das Sozialkreditsystem versuchen. Zum einen wollen wir das Ganze natürlich einordnen: Wie muss man das politisch, geschichtlich, wirtschaftlich bewerten. Wir wollen aber in Gedanken auch experimentieren: Ließe sich ein Sozialkreditsystem so verändern, dass es zu uns passt? Und wenn man ein solche hätte, brächte es dann irgendeinen Vorteil für die Gesellschaft? Konkret gesprochen: Wäre etwa ein Punktesystem für klimafreundliches, bzw. –schädliches Verhalten eine sinnvolle Ergänzung zu bestehenden Lenkungssteuern und Emissionshandel.

Wie stehen Sie selbst zu dem Sozialkreditsystem?
Nennen wir es skeptische Neugierde. Das System schlichtweg abzulehnen, weil es aus China kommt, ist mir zu wenig. Wir müssen uns schon die Mühe machen und in die Tiefe gehen. Man kann ein solches System ablehnen, wenn man entweder handfeste ethisch-moralische Gründe hat. Die müssen aber dann aber im abstrakten Fall und ohne jeden Bezug zu China Bestand haben. Oder man kann es ablehnen, weil das System wenig praktikabel ist. Hier vermute ich übrigens viel eher das Problem einer Übertragbarkeit auf den Westen. Aber die Mühe, genau das einmal durchzudeklinieren, die muss man sich schon machen.

Dr. Rainer Lisowski ist seit 2017 Professor für Public Management in der Fakultät Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Bremen.

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